Ich wünschte, ein Bürger zu sein
Ein Essay von Stephan Anpalagan
Als Joachim Gauck am 18. März 2012 zum Bundespräsidenten gewählt wird, ist das in mehrfacher Hinsicht ein Novum. Gauck ist der erste ostdeutsche Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der erste Parteilose in diesem Amt. Er zieht zu einer Zeit ins Schloss Bellevue, als sich auch das Bundeskanzleramt unter der Führung einer ostdeutschen Bundeskanzlerin befindet. Es ist nichts weniger als ein Meilenstein der Geschichte.
Vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten war Gauck verantwortlich für den Umgang mit den ehemaligen Stasi-Unterlagen. Davor war er Vorsitzender eines Sonderausschusses zur Kontrolle und Auflösung des Ministeriums für Staatssicherheit. Vielleicht braucht es dieses Wissen und Informationen zu seinem Einsatz rund um die Aufarbeitung ostdeutscher Geschichte, der Wende- und Nachwendezeit, um seine erste Rede im Amt zu verstehen.
„Versprechen wurden nicht gehalten, Erwartungen enttäuscht.“
Kurz nach der Abstimmung steht Gauck am Redepult des Plenarsaals, wo sonst der Bundestag zusammenkommt. Vor ihm die Bundesversammlung. Der Saal ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Bundesregierung sitzt in der ersten Reihe, dazu die Fraktionsvorsitzenden der Opposition. Vor Jürgen Trittin und Renate Künast (Grüne) stehen große Blumensträuße bereit und warten darauf, an den Mann der Stunde übergeben zu werden.
Gauck beginnt seine Rede mit einer persönlichen Erzählung. Er blickt zurück auf den 18. März 1990, es sind auf den Tag genau 22 Jahre vergangen. Die erste freie Wahl nach 41 Jahren DDR, mit über 90 Prozent Wahlbeteiligung.
Gauck spricht von seiner Hoffnung, seiner Zuversicht, seinem unbändigen Willen nach Freiheit. Er zitiert den Politikwissenschaftler Dolf Sternberger: „Ich wünschte, ein Bürger zu sein. Nichts weiter. Aber auch nichts weniger als das.“ Und dann sagt er einen Satz, den ich seit zwölf Jahren nicht mehr aus dem Kopf bekomme. „In jenem Moment war da neben der Freude ein sicheres Wissen in mir: Ich werde niemals, niemals eine Wahl versäumen.“
Niemals. Niemals eine Wahl versäumen.
Es sind große Worte. Und ich bin ehrlich: Ich habe mehr als nur einmal gehadert. Die Hoffnung, die Zuversicht und der Veränderungswille der Nachwendezeit, das alles ist – nicht nur in Ostdeutschland – weitestgehend verflogen. Versprechen wurden nicht gehalten, Erwartungen enttäuscht. Wer durchs Land fährt, trifft überall Menschen, die ähnliche Fragen stellen: Wie soll es weitergehen? Wem kann ich trauen?
Und wen überhaupt wählen?
Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.
Die wohl einfachste Beschäftigung in diesen Tagen ist die des Pessimisten. Es ist nicht schwer, miesepetrig, misanthropisch durch die Welt zu gehen. Wer Kinder hat, wird an Dutzenden Stellen mit dem Versagen öffentlicher Einrichtungen konfrontiert: Schulgebäude zerfallen, Krankenhäuser sind unterbesetzt, Fiebersaft und Antibiotika sind teilweise nur mit zwielichtigen Verbindungen zu örtlichen Apotheken zu bekommen.
In ländlich geprägten Gegenden wie Berlin-Mitte fehlt es regelmäßig am Handyempfang, bei chronischen Krankheiten lohnt sich die Anschaffung eines Faxgeräts, um mit der Krankenversicherung zu kommunizieren.
Nicht nur den Menschen, die regelmäßig Bahn fahren, zeigt sich in aller Schonungslosigkeit, dass der Zustand unserer Infrastruktur nicht länger hinnehmbar ist. Der Klimawandel bedroht unsere Zukunft und unsere Lebensgrundlagen. Die konkreten Auswüchse erleben wir durch Flut und Überschwemmung, wie zuletzt in Bayern. Vier Jahre nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie bleibt unklar, was wir gelernt haben und ob wir für die nächste Seuche besser gerüstet sind. Außenpolitisch ließen sich mehrere Kapitel mit der Aufzählung aller Kriege und Konflikte füllen, die bereits stattfinden oder die kurz davor sind, auszubrechen.
Beim Schreiben fällt es mir leicht, all die Dinge aufzuzählen, die nicht funktionieren. Dinge, die verunsichern und die Menschen in unserem Land in tiefe Sorgen und Nöte stürzen. Pessimistische, fatalistische Perspektiven haben einfaches Spiel. Warum sich um eine Welt kümmern, in der ohnehin alles vor die Hunde geht? Warum wählen? Welche Wahl gibt es überhaupt?
„Pessimistische und fatalistische Perspektiven haben einfaches Spiel.“
Manche ziehen es vor, die offensichtlichen Probleme zu ignorieren, andere beteiligen sich daran, das Bestehende zu zerstören. Wir könnten bei alledem den Mut verlieren, die Hände in den Schoß legen und den Kopf in den Sand stecken. Oder aber: Wir kämpfen.
Als im Jahr 2015 mehrere Millionen Menschen aus Kriegsgebieten fliehen und Hunderttausende von ihnen nach Deutschland kommen, lösen die Deutschen ein neun Jahre altes Versprechen ein. Ein Versprechen, dass sie sich selbst während der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land gegeben haben: „Die Welt zu Gast bei Freunden.“
Ausgerechnet die Deutschen versammeln sich zu Tausenden an Bahnhöfen, um Geflüchtete zu begrüßen, um Kindern Stofftiere zu überreichen, um Zufluchtsuchenden Obdach und Schutzsuchenden Sicherheit zu gewähren. Um zu helfen, um über sich hinauszuwachsen. Städte und Gemeinden sind überfordert angesichts der Freiwilligen, die sich zur Verfügung stellen, die Kleider, Möbel und Stofftiere spenden. Und dort, wo die Koordination der Hilfe zu lange dauert, nehmen Menschen ihr Engagement selbst in die Hand und organisieren Fußballtrainings, Deutschstunden und Kinderbetreuung, bürgen ideell und finanziell. Im ganzen Land entstehen Hilfsangebote und Anlaufstellen, Lehrkräfte integrieren mit großem Einsatz geflüchtete Kinder in ihre Klassen, Menschen bei der Polizei häufen Überstunden an, regulieren die Massen, die täglich ins Land kommen, bleiben oder weiterziehen.
Es ist ein Kampf. Unaufhörlich. Unerbittlich. Um Hoffnung, um Liebe, um Anerkennung, um gesellschaftliche Teilhabe. Ein Kampf, der begleitet wird von der Losung der obersten politischen Führung des Landes. Angela Merkel sieht voraus, was sich später bewahrheiten wird: „Wir schaffen das!“
Für ihre Worte aber erfährt sie Hohn und Spott, an vielen Stellen sogar Wut und Hass. Im April veröffentlichte das wissenschaftliche Institut der Agentur für Arbeit Zahlen, wonach 86 Prozent der ausländischen Männer, die 2015 nach Deutschland kamen, einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Sie liegen damit fünf Prozent über der Erwerbstätigkeitsquote deutscher Männer.
„Wir haben es geschafft. Es bleibt eine fantastische Nachricht, auch wenn der Beifall aus unterschiedlichen Gründen ausgeblieben ist.“
Nachdem Kinder und Jugendliche jahrelang für ihre Politikverdrossenheit gescholten wurden, sind es nun genau diese jungen Menschen, die sich für den Klimaschutz einsetzen, Organisationen gründen, wissenschaftliche Erkenntnisse in die breite Bevölkerung tragen und auf die bedrohlichen Auswüchse einer fossilen Wirtschaft aufmerksam machen.
Unabhängig von der Bewertung der Aktionen von Fridays for Future oder der Letzten Generation: Die Entschlossenheit, die Uneigennützigkeit und der Mut, den Kinder und Jugendliche im Kampf für eine bessere Welt zeigen, ist bewundernswert.
An anderer Stelle kämpft die Zivilgesellschaft um die menschenrechtliche Verantwortung des europäischen Kontinents. Einfache Menschen ohne hoheitliches Mandat sorgen dafür, dass das Versagen der Europäischen Union in Sachen Flucht, Migration und Seenotrettung nicht umschlägt in den Tod Tausender Männer, Frauen, Kinder. Es sind zivile Organisationen, die sich gegen den erklärten Willen nationaler Regierungen in die Fluten des Mittelmeeres stürzen, weil sie nicht dabei zusehen wollen, wie Menschen ertrinken. Die dem kriminellen Treiben der Grenzschutzagentur „Frontex“ ihre Humanität entgegensetzen. Und die dabei riskieren, verfolgt, bestraft, juristisch belangt und finanziell ruiniert zu werden.
Und wieder fällt es mir leicht, aufzuzählen, was gewöhnliche Menschen mit Herz und Gewissen leisten, wenn sie mit der Wucht ihrer Persönlichkeit gegen Ungerechtigkeiten aufbegehren. Ich könnte auch deshalb so viel schreiben, weil ich das Privileg genieße, im Veto Podcast GANZSCHÖNLAUT mit zahlreichen dieser Menschen über ihre Arbeit zu sprechen.
Trotz der Schreckensmeldungen und hohen Umfragewerte für die AfD bei den kommenden Landtagswahlen, die in manchen Regionen sogar über 40 Prozent erreichen, gewinnen die demokratischen Parteien noch immer die Mehrheit der Bevölkerung. Auch hier müssen längst nicht alle Positionen, Erzählungen und Haltungen geteilt werden, doch das Engagement und der Einsatz für die Heimat sind wertzuschätzen. Insbesondere dann, wenn Wut, Hass, Pöbelei und Gewalt gegen Parteimitglieder, politische Verantwortliche im Bund oder in der Kommune und andere Engagierte überhandnehmen.
Für das Richtige einzustehen, erfordert Kampfgeist und Lebenslust. Dazu gehört ein unerschütterlicher moralischer Kompass und der Glaube, dass wir gemeinsam verantwortlich sind, diese Demokratie, dieses Land, diese Welt in einem vitalen Zustand an nächste Generationen zu übergeben.
„Die Zivilgesellschaft kämpft um die menschenrechtliche Verantwortung des europäischen Kontinents.“
Der vielleicht einfachste Weg der politischen, gesellschaftlichen und sozialen Mitbestimmung ist die Wahl einer demokratischen Partei. Die Abgabe seiner Stimme als Zeichen der Achtung und der Wahrung unseres demokratischen Systems. Als Bekenntnis zu den politischen Institutionen der Bundesrepublik Deutschland. Kein Mensch muss mutig sein, kein Mensch muss persönliche Bedürfnisse hinten anstellen und sich im Einsatz für andere aufreiben.
Wer etwas verändern will, muss bei sich selbst anfangen und anschließend das Umfeld einbeziehen, um befreundete Menschen und Angehörige auf die Reise der Veränderung mitnehmen. Es ist ein Geschenk, dass in unserem Land viele, viele Menschen ihr Können und ihr Wollen der Allgemeinheit zur Verfügung stellen, um bestehende Verhältnisse zum Besseren zu wandeln. Wer über vorhandene Mittel und Maßnahmen nicht hinauskommt, kann, darf, soll und muss wählen. Es ist Privileg, Verantwortung, Verpflichtung.
Gaucks Worten kann ich nichts hinzufügen: Ich werde niemals, niemals eine Wahl versäumen. Und ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin.