Migration ohne Lobby
Den Dachverband für migrantische Stimmen in Sachsen gibt es nicht mehr – und das in Zeiten, in denen rechte Kräfte stärker werden. Der frühere Geschäftsführer Özcan Karadeniz fühlt sich von der Politik im Stich gelassen. Was ist passiert?
Özcan Karadeniz sitzt in einem gemusterten Sessel in seinem alten Büro, die Beine übereinander geschlagen. Sein Blick ist nachdenklich. Immer wieder zeichnen sich Fassungslosigkeit und Enttäuschung in seinem Gesicht ab. Der Grund: Den Dachverband sächsischer Migrant*innenorganisationen (DSM), für den Özcan Karadeniz seit September 2023 als Geschäftsführer gearbeitet hat, gibt es nicht mehr. Das Büro steht leer, die Webseite ist abgeschalten.
Online war bis vor Kurzem noch ein kurzer, nüchterner Abschied zu lesen: „Der Dachverband sächsischer Migrant*innenorganisationen hat aufgrund einer drohenden Zahlungsunfähigkeit im April 2024 einen Insolvenzantrag gestellt. Der Geschäftsbetrieb ist damit weitestgehend eingestellt.“
Der Dachverband von zuletzt 66 Migrant*innenorganisationen wurde durch die sächsische Förderpolitik wegrationalisiert. Die Fördergelder über knapp 500 000 Euro für das laufende Jahr sind gestrichen, zusätzlich werden knapp 150 000 Euro an Fördermittel aus den Jahren 2015 bis 2019 zurückgefordert. Summen, die der DSM nicht aufbringen kann.
Um den ehrenamtlichen Vorstand zu schützen, folgte der Insolvenzantrag. Der Verein, der sich für die Belange migrantischer Menschen eingesetzt hat, ist Geschichte. Und das in einem Bundesland, in dem migrantische Stimmen ohnehin unterrepräsentiert sind und Rechtsextreme immer lauter werden.
„Natürlich ist die Förderung politisch motiviert. Was denn sonst?“
Das von Correctiv aufgedeckte Geheimtreffen hatte lange große Wellen geschlagen. Hunderttausende strömten auf die Straßen, bei vielen sorgten die Pläne der vernetzten Rechten für Entsetzen. Der Rechtsruck, der seit Jahrzehnten vonstattengeht, wurde durch die Recherche auf die Agenda der politischen Mitte gehoben und hat bundesweit für Diskussionen gesorgt.
Währenddessen aber muss der DSM seine Arbeit beenden. Hintergrund der Insolvenz ist ein Sonderprüfbericht des Sächsischen Rechnungshofs. Der hatte die Richtlinie „Integrative Maßnahmen“, über deren Fördertopf der DSM maßgeblich finanziert wurde, unter die Lupe genommen und kritisierte die Mittelvergabe des Sozialministeriums massiv.
Verwaltungsvorgaben seien nicht eingehalten worden und Vergaben seien politisch motiviert gewesen, heißt es weiter. In Bezug auf den DSM steht der Vorwurf einer versteckten institutionellen Förderung im Raum. Der Verband soll daher rund 153 000 Euro zurückzahlen – und hat dagegen Widerspruch eingelegt. Das Verfahren habe gute Aussichten auf Erfolg.
An der aktuellen Situation aber ändere der Ausgang nichts mehr. Einen Teil der Vorwürfe bestreitet Özcan Karadeniz nicht. Im Gegenteil: „Natürlich ist die Förderung eines Dachverbands politisch motiviert. Was denn sonst?“
Sachliche Kritik an der Arbeit des Sozialministeriums, die der Rechnungshof in seinem Prüfungsbericht aufführt, könne Karadeniz durchaus verstehen – etwa wenn es um die Praxis der Mittelvergabe und die damit verbundenen Qualitätskriterien geht. Der Wille, vermehrt Ressourcen in die Integration zu stecken, sei natürlich politisch motiviert gewesen, stellt Karadeniz klar. Von einem SPD-geführten Sozialministerium könne die Gesellschaft schließlich „erwarten, dass es sich für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzt“.
Über das Förderprogramm wurden seit 2015 jährlich bis zu 15 Millionen Euro an zivilgesellschaftliche Initiativen ausgeschüttet. Der Rechnungshof behauptet, es habe dafür teilweise keinen wirklichen Bedarf gegeben. Es seien Anträge gestellt und bewilligt worden, die es nicht gebraucht hätte.
„So eine Einschätzung vorzunehmen“, kritisiert Karadeniz, „ist wahnsinnig übergriffig und anmaßend. Eine politische Einordnung vorzunehmen, das ist definitiv nicht die Aufgabe des Rechnungshofs. Eine solche Instanz hat dazu keine Expertise und vor allem auch kein politisches Mandat.“
Der Rechnungshof entgegnet auf Anfrage, dass Prüfungen meist nicht auf Gegenliebe bei geprüften Stellen stoßen würden. Die Richtlinie habe nicht den „Anforderungen des Haushalts- und Verwaltungsrechts“ entsprochen. So fehle die „Grundlage für einen ordnungsgemäßen Verwaltungsvollzug“.
„Eine politische Einordnung ist nicht Aufgabe des Rechnungshofs.“
Den Vorwurf der „versteckten institutionellen Förderung“ hingegen räumt Karadeniz ein. Die Gelder für den Aufbau und die Professionalisierung des Verbandes seien über eine Projektförderung gelaufen, eine institutionelle Förderung in der Aufbauphase des Verbandes wurde vom Sozialministerium abgelehnt. Die Begründung: Der Verein sei noch nicht erfahren und stabil genug. „Das war ein Konstrukt, das immer fragil und auch angreifbar war. Es war eine Behelfslösung auf dem Weg zu einer Dachverbandsstruktur, die professionell aufgestellt und unabhängig ist und so im Sinne migrantischer Menschen auftreten kann“, erklärt Karadeniz.
Der Verfassungsblog kritisierte schon im Dezember 2023 den Sonderbericht des Sächsischen Rechnungshofs, vor allem wegen der Instrumentalisierung des staatlichen Neutralitätsprinzips. Dieses soll nämlich sicherstellen, dass sich „die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin vollzieht, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin“.
Der Bericht sei ein „Erfolgsschritt einer langjährigen Strategie der AfD, um genau dieses staatliche Neutralitätsprinzip als Waffe zur Einschüchterung einer demokratischen Zivilgesellschaft zu instrumentalisieren“, heißt es auf dem Blog. Die Sprecherin des zivilgesellschaftlichen „Netzwerk Tolerantes Sachsen“ Maren Düsberg nennt den Sonderbericht außerdem einen „Angriff auf die Autonomie der Trägerlandschaft“.
„Ich wusste, sobald sich der Wind dreht, sobald sich eine Gelegenheit bietet, werden wir attackiert.“
Anfeindungen von rechts und fehlende finanzielle Mittel sind nur zwei von vielen Hürden, die Engagierte zu bewältigen haben. Die Fehlertoleranz ist gering und Irrtümer können schnell negativ ausgelegt werden.
Dem DSM wurde das zum Verhängnis: Dokumente wurden nachgefordert, die nicht im vollen Umfang vorgelegt werden konnten. Denn der DSM hat bei der Gründung 2017 die Nachfolge des „Integrationsnetzwerk Sachsen“ angetreten, habe aber nicht alle Projektberichte vollumfänglich vorliegen.
In den Anfangsjahren sei es sicher zu handwerklichen Fehlern gekommen. Das aber sei doch kein Grund dafür, den Verband zu liquidieren, sagt Özcan Karadeniz. „An manchen Stellen waren Akteure von damals unwissend oder unsicher. Das ist ein häufiges Problem: Menschen, die nicht in Deutschland sozialisiert sind, haben mitunter nicht so ein ausgeprägtes Systemwissen.“
Die Stelle als Geschäftsführer beim Dachverband ist nicht Karadeniz‘ erster Job im zivilgesellschaftlichen Sektor. Dass kleinste Patzer böse Folgen haben können, sei ihm immer bewusst gewesen. Deshalb habe er immer versucht, „wie Teflon“ zu sein, „dass alles abprallt“. Und um rechten Kräften bloß keine Angriffsfläche zu bieten. „Ich wusste, sobald sich der Wind dreht, sobald sich irgendwie eine Gelegenheit bietet, werden wir attackiert und angegriffen.“
Im Verband selbst habe es dieses Bewusstsein an einigen Stellen nicht gegeben, die Mitglieder hätten sich auf politische Äußerungen eingelassen. „Im Nachgang hat sich herausgestellt, dass wir uns darauf nicht verlassen können. Zumindest nicht in Sachsen. Zumindest nicht in diesen Zeiten.“
Was dem DSM passiert ist, droht auch anderen Trägern und nicht nur im Freistaat. Denn eine erstarkende AfD kann politisch mehr Einfluss nehmen – und auch stärker über die Verteilung von Geld mitbestimmen. Für Projekte, die oft ehrenamtlich arbeiten und auf Fördergelder angewiesen sind, kann das zu einem existenziellen Problem werden.
Für Karadeniz und den DSM ist dieses Problem schon jetzt bittere Realität geworden: „Alle Welt ist besorgt über den Rechtsruck, über das Erstarken rechtsextremer Parteien in Deutschland. Die Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg stehen an. Die Menschen machen sich Sorgen, gehen zu Millionen auf die Straßen, engagieren sich; fragen sich aber auch, wie wir unsere Demokratie resilient aufstellen, wie sie widerstandsfähiger wird, falls es irgendwo Beteiligung von Rechtsextremen an der Macht gibt.“
„Die Menschen machen sich Sorgen, fragen sich aber auch, wie wir unsere Demokratie resilient aufstellen.“
Das schon in der letzten Großen Koalition unter Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel geplante Demokratiefördergesetz scheitert offenbar auch unter der Ampel-Regierung. Es sollte zivilgesellschaftlicher Arbeit eine längerfristige finanzielle Perspektive geben. Gleichzeitig waren zahlreiche Projekte in ihrer Arbeit bedroht, weil der Finanzierungsantrag für das neu ausgeschriebene Bundesprogramm „Demokratie leben“ zunächst abgelehnt wurde.
Handlungsspielräume, die in der Vergangenheit noch offen waren, wurden geschlossen. Von der Politik fühlt sich auch Karadeniz im Stich gelassen: „Dass wir keine selbstbewusste Politik haben, die sich schützend vor die schwächsten Glieder der Gesellschaft stellt, finde ich beschämend.“
Genau diese Aufgabe hatte der DSM übernommen. Der Verband war eine Stimme für migrantische Menschen. Eine Lobby, um von Verwaltung und Politik wahrgenommen zu werden. „Als Gruppe, die per se marginalisiert, an den Rand der Gesellschaft gedrängt und an vielen Stellen auch von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen wird, ist es extrem wichtig, dass Betroffene sich zusammentun, organisieren und den strukturellen Rahmen schaffen, der es ermöglicht, dagegen anzukämpfen“, meint Karadeniz.
Sich Gehör zu verschaffen, ist gar nicht so leicht, weiß Karadeniz. Er spricht daher von einer Membran, die die weiße Mehrheitsgesellschaft umschließe. Fehlende Sensibilität, internalisierte rassistische Sozialisation und Unwissen einhergehend mit Desinteresse lassen diese für marginalisierte Gruppen oft undurchdringlich erscheinen. „Sie zu durchdringen, ist für Betroffene ein langwieriger, anstrengender Weg, für den sie gut organisiert sein müssen.“
Gerade migrantische Menschen der ersten Generation hätten über die Jahre sehr viel Ausschluss und Diskriminierung erfahren. „Diese Ausgrenzungs- und Marginalisierungserfahrungen, so schmerzhaft sie auch sind, sind auch verbindend gewesen“, sagt Karadeniz.
„Als Gruppe, die per se marginalisiert wird, ist es wichtig, dass Betroffene sich zusammentun, organisieren.“
Özcan Karadeniz erzählt von Frauen, denen das Kopftuch vom Kopf gerissen wurde. Von Menschen, die im Vorbeifahren angespuckt wurden oder darauf warteten, dass sie zu sechst, siebt, acht waren, bevor sie einkaufen gingen. Prägende Erfahrungen – nicht nur in den Baseballschlägerjahren.
Dem rassistischen Klima etwas entgegensetzen, das stellte sich der DSM als Aufgabe. „In bescheidenen Verhältnissen, durch sehr engagierte Menschen, die selbst in Vereinen aktiv waren.“ All das werde mit dem Bericht und den damit einhergehenden Forderungen „an die Wand gefahren“, meint Özcan Karadeniz. „Das, was an Professionalität und Erfahrungen, an Struktur und an organisationsinternem Wissen vorhanden war und was an Prozessen durchlaufen wurde, ist jetzt alles weg. Verloren.“
Eine enttäuschende Bilanz. „Dass sich alle diesem Diktat und dieser Lesart des Sächsischen Rechnungshofs in Gänze beugen, ist traurig. Ich hätte da deutlich mehr Rückgrat von den handelnden Akteuren erwartet. Nicht nur von dem SPD-geführten Ministerium, das selbst sehr beschädigt ist, sondern genauso von allen Parteien.“ Denn zivilgesellschaftliches Engagement ist auf Unterstützung aus der Politik angewiesen. Was passieren kann, wenn diese fehlt, zeige sich beim Insolvenzantrag des Verbands in aller Deutlichkeit.
Zivilgesellschaftliches Engagement versteht Karadeniz als nur einen Teil von Demokratieförderung. Aufgabe einer Demokratie sei es, dass Menschen in der Politik Ideen und Wünsche aus der Bevölkerung aufgreifen und diese auch weitertragen. Dabei gebe es gegenüber marginalisierten Gruppen eine besondere Verantwortung. Ihre Perspektiven müssten mehr gehört werden.
„Ich wünsche mir, dass Parteien in Zukunft nicht mehr auf dem Rücken migrantischer Menschen oder anderer marginalisierter Gruppen ihren Wahlkampf führen. Ich wünsche mir, dass insbesondere die Parteien der sogenannten Mitte aufhören, auf Kosten bestimmter Themen populistisch kurzfristige Erfolge erzielen zu wollen. Ich wünsche mir, dass die Parteien aufhören, am rechten Rand nach Stimmen zu fischen. Hass darf einfach keinen Platz in öffentlichen Debatten haben und muss geächtet werden.“
„Dass sich alle dem Diktat und dieser Lesart des Sächsischen Rechnungshofs in Gänze beugen, ist traurig.“
Wie es mit dem Dachverband und dem Insolvenzverfahren weitergeht, ist bislang ungewiss. Eine Neugründung schließt Özcan Karadeniz nicht aus. Es müssten aber auch erst wieder motivierte Menschen gefunden werden, die nach diesem herben Rückschlag Lust haben, sich einzubringen. Aktuell belaufen sich die Bemühungen auf die Gründung eines Fördervereins, um die Arbeit migrantischer Organisationen weiterhin zu unterstützen.
Das Sozialministerium teilt auf Anfrage mit, dass es abwarte, wie sich das Insolvenzverfahren auswirke. Es stünde einer weiteren Zusammenarbeit offen gegenüber und hätte dem Verband Gesprächsbereitschaft signalisiert.
In Zeiten, in denen Rechte weltweit einen Aufschwung erleben und rechtes Gedankengut in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, sei eine aktive Zivilgesellschaft wichtiger denn je. Es dürfe nicht passieren, dass Engagierte die Segel streichen und aufgeben, meint Özcan Karadeniz.
Denn eine Demokratie könne sich durchaus auch selbst abschaffen. „Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass wir die Tragweite verstehen und uns nicht weiter narkotisieren und uns in einer Ohnmacht wiederfinden. Überall braucht es eine Engagierte, die kritisch sind und sich einbringen.“
Text: Jule Merx
Fotos: Stella Weiß