Rassistischer Alltag

Warum der Beratung von Betroffenen in Thüringen sichere Strukturen fehlen. Ein Besuch bei Ari Hunger und Natalia Beck von Migranetz.

Rassistischer Alltag

Warum der Beratung von Betroffenen in Thüringen sichere Strukturen fehlen. Ein Besuch bei Ari Hunger und Natalia Beck von Migranetz.

Vor der Landtagswahl wächst bei Ari Hunger die Sorge. „Ich spüre immer mehr die Angst, dass es zu massiven Ausschreitungen kommen könnte“, erklärt der Mitarbeiter des Migranetz Thüringen, dem Landesnetzwerk der Migrant*innenorganisationen. Das gesellschaftliche Klima und genauso die Stimmung im Land hätten sich spürbar verschlechtert. Was nach der Wahl am 1. September droht, weiß aktuell niemand wirklich. Ungewiss sind daher auch die Perspektiven für die Antidiskriminierungsarbeit, um deren Status es ohnehin schon schlecht bestellt sei.

In Thüringen liegt die AfD in Umfragen verlässlich bei knapp 30 Prozent und wäre die mit Abstand stärkste Kraft. Auch wenn bei den Kommunalwahlen Ende Mai die befürchtete „blaue Welle“ ausgeblieben ist: Der Landesverband um seinen Chef Björn Höcke war der erste, der vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wurde und gilt als besonders radikal.

Schon vor vier Jahren hatte der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke angekündigt, die Zivilgesellschaft „trockenlegen“ zu wollen. Und der Kampf gegen rechts werde beendet, sobald seine Partei in Verantwortung komme: „Wir werden den Ideologie-Staat zurückdrängen“ und „keine neuen Landesprogramme aufsetzen, die den Menschen sagen, wie sie zu denken haben“.

Es ist demzufolge eine fundierte Sorge, wenn Ari Hunger annimmt, seine Arbeit könne sich nach der Wahl gravierend verändern und Projekte, in denen er sich engagiert, von der Landkarte der politischen Bildungsarbeit verschwinden. Mit dem Modellprojekt „Raus aufs Land“ beispielsweise soll professionelle Antidiskriminierungsberatung in unterversorgte Regionen im ländlichen Raum Thüringens gebracht werden – und dabei Zielgruppen mit einbeziehen, die in Mobilität und Ressourcen eingeschränkt sind.

Kollegin Natalia Beck nimmt bereits „eine fast salonfähige Diskriminierung in der Gesellschaft“ wahr – sei es im Kontext von Diskussionsrunden in den Medien oder bei Übergriffen und Äußerungen im öffentlichen Raum. All das werde noch viel stärker toleriert als früher. „Rassistische Diskriminierungen kommen immer häufiger vor“, betont sie. Sie würden schon in Kindergärten und Schulen „subtil mitschwingen“. 

„Ich habe Angst, dass es zu massiven Ausschreitungen kommen könnte.“

In ihre Beratung kämen „immer mehr Menschen, die an Grenzen stoßen“. Als Beleg gilt ihr neben der eigenen Wahrnehmung auch die Zunahme von rassistischen Vorfällen, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Das bestätigt auch die Studie „Thüringer Zustände“. Im Vergleich zu 2021 hat sich danach die Zahl für 2022 fast verdoppelt.

Nach einem aktuellen Bericht der Beratungsstelle Ezra zu rechter Gewalt im Jahr 2023 stieg im Landkreis Sonneberg die Zahl rechter Angriffe von vier im Vorjahr auf nun 20. Dabei werde deutlich, was die Erfolge der AfD nach sich ziehen: Wer bei Gewalttaten Unterstützung erfährt, fühle sich sicherer – die Hemmschwelle sinke und die Zahl der Angriffe steige.

Natalia Beck und Ari Hunger stellen unabhängig voneinander dasselbe fest: Migrantische Menschen würden sich nur selten zu den Wahlen äußern und sich immer häufiger nicht mehr sicher fühlen. Nicht wenige würden deshalb darüber nachdenken, Thüringen zu verlassen. Die Frage ist nur: wohin? Der Rechtsruck ist inzwischen überall in Europa spürbar. Ein Problem, für das die Antidiskriminierungsarbeit bisher nicht wirklich gut gewappnet sei.

Das Migranetz hat im Frühjahr 2024 eine Netzwerk- und Bedarfsanalyse veröffentlicht. Diese stellt unter anderem fest: Es braucht dringend mehr spezialisierte Antidiskriminierungsberatung, insbesondere in ländlichen Regionen. Denn Projekte und Beratungsstellen hätten kaum eine finanziell langfristige Planungssicherheit. Das erschwere eine thematisch fokussierte Arbeit. Es gebe eine viel zu geringe Sichtbarkeit und Repräsentation der Akteure, die im Landkreis von gesellschaftlicher Diskriminierung betroffen sind, sie werde „zudem noch eingedämmt, in soziopolitischer, finanzieller, personeller sowie auch struktureller Art und Weise“.

Außerdem sei es dringend nötig, Perspektiven von Selbstorganisationen, community-basierten Gruppen und Verbündeten von Menschen, die von Diskriminierung betroffen sind, in die kommunale Arbeit einzubeziehen. Bisher passiere das in verschwindend geringem Maß. Auch die Studie „Gut beraten“ der Antidiskriminierungsstelle des Bundes bestätigt den Befund.

„Strukturen in Deutschland wurden erkämpft. Das war beinharte Arbeit.“

Natalia Beck hofft, dass Betroffene den Mut fassen, sich mehr einzubringen und um Hilfe bitten, wenn diese nötig ist. „Im schulischen Kontext wünsche ich mir, dass Beschwerden endlich ernstgenommen werden und dass es ein gut ausgebautes therapeutisches Setting gibt. Das würde vieles erleichtern.“

Es müssten endlich sichere Strukturen für die Projekte entwickelt werden, fordert Ari Hunger. „Wir brauchen Sicherheit, vor allem für die Menschen, die wir beraten.“ Das gelte aber auch für die Mitarbeitenden: Sie wüssten zum Ende eines Jahres regelmäßig nicht, ob und wie es für sie weitergehen wird. „Die Strukturen, die es in Deutschland gibt, wurden hart erkämpft. Das war beinharte Arbeit.“ Wenn das Team nicht immer wieder um Sichtbarkeit und Anerkennung kämpfen müsste, wäre das ein starkes Signal.

Seine Vision? „Dass es normal ist, dass Menschen, die diskriminiert werden, gleichberechtigt mit am Tisch sitzen, Teil der Gesellschaft, der Politik, des Bildungssektors und des Arbeitsmarktes sein können.“ Ob diese Normalität sich einstellt, wenn die AfD künftig noch stärker wird und vielleicht sogar an einer Landesregierung beteiligt ist? Zweifelhaft bis ausgeschlossen.

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