AfD im Amt
Solange die AfD in der Opposition ist, kann sie den Zuständigen Versagen vorwerfen. Was aber passiert, wenn der Platz am Stammtisch gegen eine Machtposition getauscht wird? So wie in Pirna, wo der Stadt seit Anfang des Jahres ein AfD-Kandidat vorsteht.
AfD im Amt
Solange die AfD in der Opposition ist, kann sie den Zuständigen Versagen vorwerfen. Was aber passiert, wenn der Platz am Stammtisch gegen eine Machtposition getauscht wird? So wie in Pirna, wo der Stadt seit Anfang des Jahres ein AfD-Kandidat vorsteht.
Disclaimer: Eigentlich sollte hier ein Text stehen, der eine Person aus dem Pirnaer Rathaus mit Eindrücken aus erster Hand anonym zu Wort kommen lässt. Über mehrere Monate hat unsere Redaktion regelmäßig telefoniert, Protokoll geführt und die Berichte dokumentiert.
Doch kurz vor Veröffentlichung zieht die Person ihre Informationen zurück. Der Grund: Das politische Klima in der Stadt hat sich vor der Landtagswahl in Sachsen weiter verschärft. Die Stimmung im Rathaus ist deshalb deutlich angespannt. Es dominiert eine unterschwellige Angst, dieser Beitrag könnte Mitarbeitende der Stadtverwaltung in Schwierigkeiten bringen und sie Verdächtigungen aussetzen, die ernste berufliche oder auch persönliche Konsequenzen haben könnten. Daher werden die authentischen Passagen dieses Artikels nicht wie geplant erscheinen.
Dennoch hat sich unsere Redaktion entschieden, das dramaturgische Gerüst dieses Berichts zu veröffentlichen, um ein Stimmungsbild zu zeichnen.
Ein politisches Erdbeben, so viel ist klar, ist im sächsischen Pirna erstmal ausgeblieben – zumindest in der ersten Jahreshälfte. Seit Februar ist Tim Lochner Oberbürgermeister der Kleinstadt, nominiert vom Pirnaer AfD-Stadtverband, ohne selbst Parteimitglied zu sein. Seine Wahl im Dezember 2023 sorgte für viel Aufregung und Berichterstattung.
Lochners Amtsantritt wurde von großer Spannung und der Frage begleitet, ob und wie der 54-Jährige die Geschicke der Stadt künftig leiten wird. Nach den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit steht fest: Große Verwerfungen hat es bisher nicht gegeben, die tektonischen Veränderungen fanden und finden, so es sie gibt, unter der Oberfläche statt.
Tim Lochner ist Deutschlands erster AfD-Oberbürgermeister und damit mittlerweile eins von mehreren Beispielen, das erahnen lässt, wie es ist, wenn die AfD tatsächlich politische Verantwortung übernimmt. Im ganzen Land sitzt die Partei, die vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird, in Parlamenten und verändert dort durch radikale und aggressive Rhetorik das politische Klima.
Was aber, wenn das politische Personal nicht nur fordern, kritisieren und pöbeln kann, sondern liefern muss? Was bleibt von markigen Versprechen, wenn der Wahlkampf vorbei ist und die politische Arbeit beginnt?
Zwei andere Orte im Land können bei der Suche nach Antworten helfen: Zum einen das thüringische Sonneberg, wo Robert Sesselmann seit Juni 2023 als erster AfD-Landrat Deutschlands im Amt ist. Zum anderen das sachsen-anhaltinische Raguhn-Jeßnitz. Hier wurde Hannes Loth einen Monat später zum ersten hauptamtlichen AfD-Bürgermeister gewählt.
Loths Start war ein holpriger: Im Wahlkampf hatte er angekündigt, gegen jede Erhöhung von Steuern und Gebühren zu stimmen. Als Bürgermeister musste er dann jedoch angesichts der Haushaltslage Kita-Gebühren und Gewerbesteuern erhöhen.
Weniger bedeutungsvoll waren hingegen die ersten Amtshandlungen von Tim Lochner in Pirna. Noch im März ließ er vor dem Rathaus eine blaue Fahne mit Friedenstaube aufhängen, in der Hoffnung, so erklärte er, ihre Symbolkraft befördere das friedliche Miteinander in Pirna. Später ließ er zwei Mülltonnen aufstellen, stoppte den Test einer neuen Verkehrsführung in der Stadt, kündigte die Wiedereröffnung einer öffentlichen Toilette an.
Die Politikwissenschaftler Nikolas Dietze und Marvin Müller untersuchen in einem Forschungsprojekt des Instituts für demokratische Kultur, was in Kommunen passiert, in denen 2023 bei Wahlen zu kommunalen Ämtern Mitglieder der AfD in die Stichwahl gekommen sind. Dafür haben sie das Fallbeispiel Raguhn-Jeßnitz analysiert. „Die Verwaltung arbeitet reibungslos und fühlt sich teilweise sogar entlastet“, fasst Marvin Müller zusammen.
„Er respektiert rechtliche Grenzen, nimmt viel selbst in die Hand und schlägt keine harten Töne an – so die Wahrnehmung der Befragten vor Ort.“ Dass immer wieder medial auf den Kita-Gebühren herumgeritten werde, störe die Befragten hingegen. Schließlich sei der Vorschlag vom hiesigen Elternbeirat gekommen. Loth habe es zum ersten Mal seit Jahren wieder geschafft, überhaupt einen Haushalt aufzustellen. Er werbe Fördermittel ein, packe an.
„Er nimmt einen wichtigen Posten ein, indem er zeigt, dass die AfD auch Verantwortung übernehmen kann.“
Alles gar nicht so schlimm? Dietze mahnt zur Vorsicht. Er beschreibt Loths Vorgehen als „strategischen Machtpragmatismus“. Der Bürgermeister sei im Ort fest verwurzelt, habe Kontakt zu Vereinen und Firmen. Sein „Auftreten entspricht vielleicht nicht dem klassischen Bild eines AfD-Politikers, er verkörpert einen anderen Stil“, ordnet Dietze ein. „Er nimmt für die Partei aber einen wichtigen Posten ein, indem er durch seine Bürgermeisterschaft zeigt, dass die AfD auch Verantwortung übernehmen kann.“
Der Soziologe Matthias Quent kam nach dem Erfolg der AfD bei den Kommunalwahlen im Frühsommer zu dem Schluss, die Partei werde die Kommunalpolitik verändern, sie sei „auf einem demokratiegefährdenden Erfolgskurs“. Auch charakterisierte er sie als sehr „zustimmungsfähig“, für ihr Personal vor Ort aber gelte das nur bedingt. Und dennoch zeigten die Ergebnisse auch, dass viele Wählende „offenbar doch nicht“ überzeugt seien, dass die AfD Verantwortung tragen sollte.
Die kommunale Ebene ist ein Experimentierfeld: Was funktioniert, was nicht? Hannes Loth verkauft sich gut, strahlt nach außen und transportiert damit: Die AfD ist nicht nur laut, völkisch und national. Sie vermarktet sich als „Partei von nebenan“, die etwas bewegt. Dass die Themen, die auf den Plakaten so viel hermachen, mit dem politischen Alltag im Kommunalem wenig bis nichts zu tun haben, gerät dann schnell in Vergessenheit.
Ganz anders als in Raguhn-Jeßnitz sieht es in Sonneberg aus. Hier beklagen verschiedene Akteure, das Klima habe sich deutlich verändert. Robert Sesselmanns Versuch, beim Förderprogramm „Demokratie leben“ Geld zu streichen, wurde zwar verhindert. Es gebe aber keinerlei „Schamgefühl mehr“, eine rechtsextremistische Gesinnung zu verhindern, bilanziert der Gastronom Marcel Rocho. In bestimmten Kneipen gehöre der Hitlergruß zur Tagesordnung. Es sei zu einer „erschreckenden Normalität“ gekommen.
Die AfD ist nicht nur laut, völkisch und national. Sie vermarktet sich als „Partei von nebenan“, die etwas bewegt.
In der Verwaltung hat sich dagegen nichts geändert, das Personal ist geblieben, niemand hat sich einen neuen Job gesucht. Dass Sesselmann weder eine Lösung dafür hat, dass es im Landkreis wegen Bauarbeiten eine kilometerlange Umleitung gibt, die Menschen nervt, noch dafür, dass der regionale Klinikverbund von der Insolvenz bedroht ist, führt offenbar nicht dazu, dass Menschen, die ihn gewählt haben, jetzt mit ihm hadern würden.
Eine Analyse von Nikolas Dietze für die Amadeu Antonio Stiftung bemerkt, „eine vor Ort wahrgenommene Normalität des Bürgermeisters“ setze der „Radikalisierung sowie Skandalisierung der AfD“ etwas entgegen.
Auch im sächsischen Pirna sind die Veränderungen bisher klein geblieben – und gerade deshalb gewöhnt die Stadt sich immer mehr an einen Zustand, der zuvor als Schreckensszenario galt.
Mit den Wahlen am 9. Juni 2024 hat die AfD die Anzahl ihrer Sitze im Stadtrat von Pirna von vier auf neun erhöht, mit 33,19 Prozent der Stimmen ist sie die mit Abstand stärkste Kraft. Auf Platz zwei liegt mit fünf Sitzen die CDU. Wie Lochner mit diesem Ergebnis im Rücken weiter vorgehen wird, was er strategisch plant, ist nicht klar. Interviews wurden vor der Stadtratswahl verweigert, die Verwaltung teilte mit, eine ausführliche Medieninformation werde es zeitnah nach dem Wahltag geben. Das gebiete „bereits das allen öffentlichen Stellen aufgegebene Neutralitätsgebot“.
Wie das Stadtoberhaupt denkt, war lange nur abseits der offiziellen Kanäle zu erahnen: Im Mai machte etwa ein schnell wieder gelöschter Facebook-Eintrag die Runde, in dem Lochner das Hissen der Regenbogenfahne mit dem Hissen von Hakenkreuzfahnen im Dritten Reich verglich.
Mit 33,19 Prozent der Stimmen ist die AfD die mit Abstand stärkste Kraft im neu gewählten Pirnaer Stadtrat.
Seit Mitte Juli gibt es auf der Webseite der Stadt eine neue Rubrik: „Themen des Oberbürgermeisters“. Dort finden sich Mitteilungen wie die zu einer Veranstaltung zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes mit einem Vortrag des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz – und in seiner Lobpreisung des Stadtoberhaupts der AfD sehr eindeutig und wenig neutral:
„Mit dieser Veranstaltung, die nicht als Selbstbestätigung der Privilegierten empfunden werden konnte, ist dem Markenkern des Grundgesetzes ein bemerkenswerter Dienst erwiesen worden. […] An diesem Abend zumindest hat sich der Wunsch des Stadtoberhauptes erfüllt, mit dem Tim Lochner seine Heimatstadt in der glücklichen Lage wissen will, ‚dass sich der Geist unseres Grundgesetzes an diesem Ort weiterhin frei zu entfalten vermag‘.“
Verfasst wurde das Ganze von Timo J. Backofen – der sehr beispielhaft dafür steht, dass die AfD das, was sie den von ihr so verachteten „Altparteien“ oft vorwirft, gerne selbst praktiziert, wenn ihr Personal im Amt ist.
Tim Lochner hat sich zum Beispiel für seinen vakanten Büroleitungsposten einen alten Vertrauten geholt: einen Mann, der bisher als Sachbearbeiter in der sächsischen Verwaltung tätig war. Einen Mann, der Schlagzeilen damit machte, für den AfD-Bürgermeister zu arbeiten, aber gleichzeitig in Dresden für das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zu kandidieren. Das BSW hat sich inzwischen von Timo J. Backofen distanziert, vom Wahlzettel entfernen aber konnte es ihn nicht mehr.
Normalität. Das ist es, was die AfD in Verantwortung momentan offenbar erzeugt. Dabei fährt sie zwei Strategien: Während Tim Lochner in Pirna aktuell die Füße stillhält und kaum in Erscheinung tritt, machen Hannes Loth und Robert Sesselmann das, was sie anderen vorwerfen, wenn sie Probleme nicht lösen können: Sie verweisen auf die Zuständigkeiten. In den Amtsstuben gibt sich der Rechtsextremismus leise. Noch.