Politische Bildung unter Druck
Antidemokratische Positionen populär wie nie – sind Aufklärung und Prävention gescheitert? Ein Gespräch mit Hochschullehrerin und Demokratie-Didaktikerin Anja Besand über die eigentliche Aufgabe von politischer Bildung, Anstand und Fallen für ihr Fach.
Seit Jahrzehnten findet politische Bildung statt. Trotzdem sagen die Prognosen, dass eine in Teilen rechtsextreme Partei stärkste Kraft in gleich drei Bundesländern werden könnte. Ist da was schiefgelaufen?
Anja Besand: Ich würde sagen, das ist eine falsche Perspektive. Es ist nicht die Aufgabe politischer Bildung, für die richtigen Wahlergebnisse zu sorgen. Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis, weil es eine Vorstellung von politischer Bildung als Präventionsmittel gibt – und weil politische Bildung selbst gar nicht immer abstreitet, dass das ihre Aufgabe wäre. Die politische Bildung ist kein sicherheitspolitisches Instrument – und sie sorgt auch nicht für Ordnung und Ruhe. Politische Bildung fördert kritische Urteilskraft. Das kann erstmal zu mehr Konflikten führen, wenn Menschen davon Gebrauch machen. Autoritäre Regime sind auf Gehorsam aufgebaut, Demokratie ist stattdessen auf gebildete Menschen angewiesen, die die Fähigkeit haben, Dinge gemeinsam anzugehen. Politische Bildung stabilisiert zwar die Demokratie, aber nicht im Sinne von bestimmten Wahlergebnissen.
„Politische Bildung sorgt nicht für Ruhe und Ordnung, sondern fördert kritische Urteilskraft.“
Wird denn ausreichend politische Bildung gemacht?
Das ist nicht ganz einfach zu beantworten. Es hat sich viel getan in Sachsen, aber bis sich das auszahlt, dauert es noch. Mit Blick in die Vergangenheit müssen wir sagen: Lange Zeit haben wir in Sachsen mit der politischen Bildung in der Schule erst in Klasse 9 angefangen – in einer Zeit also, in der junge Menschen unter Umständen schon den Hauptschulabschluss machen oder sich auf ihren mittleren Bildungsabschluss vorbereiten. Dann hatten sie vielleicht ein halbes Jahr lang ein einstündiges Fach, das sie in ihrer Lebenssituation schon nicht mehr wichtig finden. Aus der Forschung wissen wir, dass die Frage, ob ich ein politisches Interesse und die Bereitschaft habe, mich mit politischen Fragen auseinanderzusetzen, mit dem elften Lebensjahr abgeschlossen ist. Wir haben also lange viel zu spät angefangen. Erschwerend kam hinzu, dass politische Bildung als Querschnittsaufgabe bezeichnet wurde. Damit wurden alle strukturell unverantwortlich gemacht. Der frühere Ministerpräsident Stanislaw Tillich hat klar gesagt, Sachsen habe sich bewusst entschieden, nicht zu viel politische Bildung zu machen, weil die Bevölkerung darauf keine Lust habe. Zum Glück ist das jetzt anders.
Es gibt ja auch außerschulische Angebote der politischen Bildung …
Ja. Und es gibt gute und fest etablierte Kooperationsbeziehungen zwischen Schulen und außerschulischen Bildungsträgern und eine außerschulische Bildungslandschaft, in der viel Gutes passiert. Aber grundsätzlich haben wir es dort aber mit zu vielen Projekten zu tun, die sich von Förderzeitraum zu Förderzeitraum um Gelder bemühen müssen und immer gezwungen sind, etwas Neues aufzulegen. Die Förderstruktur verhindert, dass diese Leute in eine professionellere Haltung kommen und wirklich klar beschreiben können, was sie erreichen wollen und können und wie sie dahin kommen.
Welches Ergebnis bringt gute politische Bildung realistisch hervor?
Um das zu beantworten, müssen wir fragen, was Menschen denn wirklich können müssen, damit eine Demokratie gut funktioniert. Da geht es um politische Urteils- und Handlungsfähigkeit. Das bedeutet, ich kann mich orientieren, echte Fakten von falschen unterscheiden, mir eine eigene Meinung bilden und das auch begründen. Und ich brauche auch einen moralischen Kompass für Legitimität, muss also wissen, was in einem Land auf legitime Weise machbar ist. Ich muss wissen, dass es Grenzen dort gibt, wo die Gleichheit der Menschen infrage gestellt wird. Und ich bin in der Lage, mich für Dinge einzusetzen, mich um Zustimmung zu bewerben oder eben auch Mehrheiten für meine Anliegen herzustellen.
Es heißt oft, dass es Menschen gibt, die sich abgewendet haben und die für politische Bildung nicht erreichbar sind. Sind die verloren?
Das sind häufig Leute, die sich relativ bewusst abgewendet haben und das auch von sich selber wissen. In so einem Fall ist eigentlich der einzige Weg, der zurückführen kann, der einer dauernden, also nicht einmaligen Kommunikation. Wer ist in der Lage, dauernde Gespräche zu führen? Das sind Menschen in der Familie, im Betrieb, im Verein oder der Nachbarschaft. Auch die brechen manchmal Gespräche ab. Das ist auch nicht schlimm, denn sie kommen immer wieder zusammen. Ich glaube, dass politische Bildung sich mehr darauf konzentrieren sollte, diejenigen zu stärken, die solche Gespräche führen, als selbst Dialoge zu organisieren.
Meine Studierenden sind oft verzweifelt über die Konflikte mit ihren Omas und ihren Eltern. Sie fragen sich die ganze Zeit, ob es sinnvoll ist zu reden oder ob es keinen Sinn hat. Ich sage: beides. Du kannst das Gespräch jederzeit abbrechen, wenn es einfach nichts mehr bringt. Und dann redest du in drei Wochen wieder mit deinem Vater. Meine eigene Oma hat nicht Höcke, sondern Adolf Hitler toll gefunden. Und was meinen Sie, wie ich damit umgegangen bin? Ich habe immer wieder gesagt: Ruhe, Schluss jetzt! Aber ich bin immer wieder zu meiner Oma gegangen, habe sie durchgehend lieb gehabt. Wir sollten nicht das Gefühl haben, wir dürften andere nicht mehr gern haben – aber wir können trotzdem klare Diskursgrenzen setzen.
„Politische Bildung sollte sich darauf konzentrieren, diejenigen zu stärken, die Gespräche führen.“
Was bedeutet das?
Ich finde, es ist schon ein großer Gewinn, wenn Menschen den Anstand zurückbekommen, bestimmte Dinge nicht zu sagen. Wenn dagegen Schamgrenzen fallen, dann gibt es Eskalationsspiralen. Wir müssen nicht alle politisch auf einer Linie sein. Aber es geht darum, ein paar Grenzen zu definieren, die jenseits des Grundkonsenses liegen. Wir bringen unseren Kindern ja auch bei, nicht im Restaurant in der Nase zu popeln.
Menschen haben ungern das Gefühl, sie sollen erzogen werden. Und viele, die sich aktuell von der Demokratie abwenden, sind ja sehr klug und können das rhetorisch durchaus gut begründen. Denen helfen Bildungsangebote vermutlich nicht weiter.
Ja, ich erlebe im Moment viele Ärztinnen und Ärzte, die sich abwenden, weil sie jahrzehntelang unter einer verfehlten Gesundheitspolitik gelitten haben.
Ist es nicht eine unerfüllbare Forderung an die politische Bildung, solche Menschen wieder an das politische System heranzuführen?
Es gibt verschiedene Fallen, in die wir mit der politischen Bildung besser nicht reinlaufen sollten. Eine davon ist die Legitimationsfalle. Politische Bildung ist nicht dazu da, Politik, die gerade gemacht wird, zu legitimieren. Das wurde vielleicht in der DDR-Staatsbürgerkunde gemacht – wir machen das eigentlich nicht. Gleichzeitig neigen wir – gerade dann, wenn die Kritik zu umfassend ist, wie das gerade der Fall ist – in der politischen Bildung auch manchmal dazu, den Leuten zu erklären, dass nicht alles so schlecht ist. Also wir sagen dann: „Das kannst du doch gar nicht von der Demokratie erwarten! Guck mal, die strengen sich an, haben halt jetzt keine Mehrheit. Da gibt es einen Kompromiss und du findest den jetzt halt blöd.“ Das kann nach hinten losgehen, denn es geht nicht darum, dass die Leute irgendwas gut finden sollen. Überhaupt nicht. Es geht darum, die Grundlagen dafür zu legen, dass wir demokratisch und friedlich zusammenleben können in einer hochgradig differenzierten Gesellschaft, in der das gar nicht einfach ist. Das Aushalten zu lernen, das ist das eigentliche Ziel politischer Bildung.
Muss die politische Bildung sich aber trotzdem inzwischen auch verändern bei all der Polarisierung? Müssen wir nicht alle mitnehmen – und heißt das im Vorfeld von Wahlen dann nicht auch, dass alle Parteien auf Bildungsveranstaltungen eingeladen werden müssen? Das wird ja grade im Vorfeld der Wahlen wieder intensiv diskutiert.
Gute Frage. Wir haben oft eine Monokultur der politischen Bildung, der nichts anderes einfällt als Vortragsveranstaltungen, Podiumsdiskussionen und Debatten im Talkshowformat. Wir lassen also politisch Verantwortliche sprechen. Das sind Formen, die sich über Jahre eingespielt haben – und es gibt inzwischen sogar Verwaltungsgerichtsurteile, die sagen: Ja, im Vorfeld von Wahlen hast du – wenn du das so organisierst – alle einzuladen, die eine Chance haben, die Wahlen zu gewinnen. Ich frage aber mal zurück: Warum machen wir das überhaupt in dieser Form? Es handelt sich doch um eine Bildungsveranstaltung und nicht um ein Pressegespräch. Im Rahmen von Bildung lässt sich aus meiner Sicht gut begründen, eine rechtsextreme Partei nicht einzuladen: In der Landesverfassung und im Schulgesetz steht, an welchen Werten sich Bildung orientiert. Und mit diesen Werten hat etwa die AfD in Sachsen nichts zu tun. Ich muss ja keine Podiumsveranstaltung machen. Und ich persönlich lasse mich auch gerne verklagen. Von mir aus verliere ich auch. Ich habe es dann aber trotzdem nicht gemacht.
„Im Rahmen von Bildung lässt sich gut begründen, eine rechtsextreme Partei nicht einzuladen.“
Brauchen wir mehr Mut und mehr Vielfalt in der politischen Bildung?
Ja! Die haben wir in Sachsen auch. Wir dürfen in der politischen Bildung nicht satt und selbstzufrieden in unseren Häusern sitzen und denken, die Leute werden schon kommen. Wir müssen raus! Und wenn wir rausgehen, müssen wir dort, wo wir hingehen, schauen, was passt – und zuhören.
Gibt es Formate, die Ihnen besonders gut gefallen?
Ich bin begeistert von Angeboten im Überschneidungsfeld zum Sport. Da kommen Leute über Fragen zu Gerechtigkeit und Fairness ins Gespräch und müssen auch gar nicht so arg viel reden. Die Dinge werden etwa durch die Definition von Regeln erfahrbar. Wir neigen in der politischen Bildung zum Labern. Wir erklären alles endlos und dann sollen die Leute alles wissen. Das Wissen ist aber gar nicht so entscheidend. Es geht auch nicht immer um ausgefeilte Argumente. Es gibt historische Arbeiten, die sich mit der Frage beschäftigt haben, welche Eigenschaft die Menschen hatten, die zur Zeit des Nationalsozialismus jüdische Menschen versteckt haben. Die haben nicht viel argumentiert. Die haben einfach gesagt: „Es ist nicht in Ordnung, was hier passiert. Das geht nicht.“ Die hatten einfach eine Haltung.